Abenteuer Bahnfahren

Aus gegebenem Anlass (Festplattenbackup und damit verbundene Durchsicht uralter Daten) will ich hier mal ein Fundstück älteren Datums zu besten geben…

Bahntagebuch: 04.05.05 Dresden – Elsterwerda – Baruth (Mark) – Berlin Schönefeld – Rostock

Um kurz vor eins an diesem wunderbaren Mittwochnachmittag vor Himmelfahrt verabschiede ich mich von der letzten Kommilitonin, die mir noch herzliches Beileid für die mir bevorstehende sechseinhalbstündige Fahrt wünscht. Na prima, hab ja genug zu lesen dabei.

Ich habe mir für dieses ziemlich lange Wochenende ausgedacht, eine Freundin in Rostock belästigen zu müssen, und diese ganze Fahrt dorthin ließ mich doch stark daran zweifeln, dass dieses Vorhaben gottgewollt war. Es begann… als sie mich anrief, nee Quatsch, in einer schön stinkigen Dresdner S-Bahn, die für die Fahrten nach Elsterwerda abgestellt war, was sie aber nicht daran hindern konnte, weiterhin die Strecke Bad Schandau – Meißen Triebischtal auf allen möglichen Anzeigen darzustellen. Ich sitze im Fahrradabteil, weil die alten Omis mit ihren Monstertrollis unbedingt Treppe steigen wollten und mir nun schon alle Plätze oben im Zug weggeschnappt haben. Soll noch einer von denen hilflos tun, wenn es um eine harmlose 10-cm-Stufe geht, da trag ich dann keinem mehr die Tasche rauf!!

Wie gesagt also Fahrradabteil, ohne Fahrräder, dafür aber mit einigermaßen zwielichtigen Gestalten, die klappernde bunte Nylon-Einkaufsbeutel dabei haben und nach deren Inhalt riechen. Mir gegenüber sitzt eine (grob geschätzt?) knapp sechzigjährige Frau im Leinenhosenanzug, die mich die ganze Fahrt über extrem abwertend mustert. Sowas liebe ich, wirklich. Später vergrabe ich mich aus Frust schon in meine sehr schlau gewählte, da so unglaublich federleichte Lektüre zum Thema Actionscript. Siebenhundert Seiten mit vielen lustigen wiewohl überflüssigen Screenshots, und insgesamt wohl ein Fünf-Kilo-Buch. Das stört aber alles im Moment gar nicht, denn die Fahrt nach Elsterwerda verläuft ansonsten verdächtig reibungslos und trotz einer minimalen Verspätung von vielleicht fünf Minuten kriege ich noch meinen Anschlusszug (oh Wunder, der eigentlich schon hätte weg sein sollen).

Damit hätte ich also ungefähr anderthalb Stunden von geplanten sechseinhalb gut überstanden – und um die Quote nicht zu sehr zu versauen, ändert sich das auch schlagartig. Kurz hinter Elsterwerda steigt die Jamaikanische Bobmannschaft in mein Abteil, was für sich noch in Ordnung wäre, da die sich was in die Ohren stöpseln und einigermaßen ruhig sind, aber ihnen folgt ihr chinesischer Fanclub! Zur Strafe dafür, dass ich einer der bösen Menschen bin, die es fertig bringen, allein einen Vierersitz im Zug zu okkupieren, pflanzen sie sich auch direkt um mich rum, also zwei mir gegenüber, einer zwei Reihen weiter vorn und zwei rechts hinter mir. Gut, das waren die letzten freien Plätze in diesem Wagen, aber in Ordnung muss ich es trotzdem nicht finden, dass sich die fröhlichen Asiaten von der ungünstigen Platzwahl kein bisschen in ihrem Mitteilungsdrang einschränken lassen. Das wäre vielleicht noch ganz lustig, wenn sie deutsch sprächen (man ihnen also wenigstens zuhören könnte) und die aktuelle Planung keine drei Stunden davon voraussehen würde (also wenigstens bis Berlin durchweg).

Aber heute meint es Gott gut mit mir! Die Chinesen schreien sich um mich rum eine halbe Stunde lang an, ohne Luft zu holen, ich habe schon lange aufgegeben, irgendwas zu lesen, da verkündet die Ansage, dass der Zug nur noch bis Baruth fährt, weil ab da was mit dem Gleis nicht stimmt, und der Zugführer habe leider auch keine Ahnung, wie wir in diesem Scheißkaff irgendwo mitten in der Heide weiter kommen sollen. Das hab ich nur leider zu diesem Zeitpunkt nur zu einem Viertel mitgekriegt, denn die Chinesen haben es gar nicht mitgekriegt und dementsprechend auch nichts an ihrer Gesprächslautstärke geändert.

Also bleibt der Zug in der Pampa a.k.a. Baruth (Mark) stehen und nachdem eigentlich alle aus meinem Abteil eine Weile verunsichert dasaßen (da sie ja alle dank der Chinesen nichts gehört hatten), wurde doch bald klar, dass die offenen Türen eine Aufforderung zum Aussteigen darstellen sollten, und sich erst hinter dem Letzten von uns wieder schließen würden.

Prima, eine Zugladung Leute steht dumm an einem Bahngleis in einem Kuhkaff. (Davon noch wesentlich mehr Chinesen als angenommen, außerdem alte Omas und sonstige Persönlichkeiten, gegen die ich an diesem wunderschönen Sommertag gern was haben möchte.) Laut Beschriftung gibt es vier Gleise, aber zweie sind wohl beim letzten Frühjahrsputz draufgegangen. Außer einem kleinen (wirklich kleinen) Backsteinhäuschen ohne Funktion (und wahrscheinlich ohne Tür) und zwei Glaskästen (nicht mit nennenswerten Reiseinformationen bestückt) gibt es absolut nichts hier. Und schließlich behauptet (in Ermangelung eines Zugbegleiters von vorhin, dessen Aufgabe das meiner Meinung nach gewesen wäre) einer der hundert Leute aus dieser mir immer suspekter werdenden Ansammlung aus Beknackten und Chinesen (also nur Beknackten, und ich schließe mich ein – wer fährt denn nach Rostock mit der Bahn?!): “Zug nach Berlin kommt gleich an Gleis vier.” Gott allein weiß, wieso in solchen Situationen nur jemand beliebiges, der einigermaßen selbstbewusst klingt, eine willkürliche Behauptung machen muss, um sofort alle hinter sich zu haben. Vermutlich hätte er im gleichen Tonfall verkünden können, es sei das Intelligenteste, jetzt drei Kilometer mit Sack und Pack durch den Wald zu wandern, um dann den Nahverkehrsbus nach Kassel zu nehmen, wo ganz sicher Anbindung nach Berlin und Rostock besteht. Wie dem auch sei, der Betreffende hat sich auf Gleis 4 spezialisiert und tatsächlich pilgert plötzlich die ganze Herde dorthin.

An dieser Stelle würde ich gern kurz auf menschliche Denkstrukturen aufmerksam machen: wir reden von Haltepunkt Baruth – zwei Gleise und keine nennenswerten Schwellen. Alle zwei Stunden könnte es sein, dass ein Zug vorbei kommt, mit etwas Glück. Aber statt alle diese Tatsachen auszuwerten und zu dem Ergebnis zu kommen, dass es wahrscheinlich das Einfachste wäre, über die Schienen zum gegenüberliegenden Bahnsteig zu wandern, klammert sich das verunsicherte deutsche Gemüt am einzigen Fixpunkt seiner vor sich hin wabernden Existenz fest: Regeln. Man darf nicht über die Gleise gehen, weder in Berlin Ostbahnhof noch in Baruth (Mark), also nehmen wir Trollis, monströse, mutierte Rieseneinkaufsbeutel, Bierkästen, Handtäschchen und was sonst noch so alles im Gepäck ist, tragen das ganze Zeug mitsamt unserem Eigengewicht dreißig halb durchgerostete Stufen hoch, marschieren in schwindelerregender Höhe im Pulk von etwa hundert Personen über eine schmale, halb durchgerostete Blechbrücke und auf der anderen Seite dreißig halbdurchgerostete Stufen wieder nach unten. Immerhin haben wir uns dadurch nicht in die Gefahr begeben, auf den Gleisen von einem herannahenden Zug überrollt zu werden!

Wir stehen nun also an Gleis 4, und, oh Wunder, es kommt tatsächlich bald ein Anschlusszug! Anscheinend hat unser letzter Zugführer einen EC entführt oder umgeleitet oder irgendwas, jedenfalls gibt es jetzt auf der Strecke Praha – Dresden – Berlin – Hamburg einen weiteren Haltepunkt: Baruth! Wider meinen Vorsatz hebe ich noch einer alten Oma das Gepäck ins Abteil, dann geht’s auf Platzsuche. Das ist nicht so einfach, denn der EC ist schon bisschen was besseres, was im Klartext heißt: schmale Gänge, auf denen die versammelten Raucher rumstehen, und sich nicht wirklich dafür interessieren, dass irgendjemand da durch will, und ansonsten geschlossene Sechserabteile mit Gardinchen dran und Lederbezügen auf den Sitzen. Das ist alles hübsch und sehr persönlich, aber hat auch zur Folge, dass das Platzangebot insgesamt ziemlich begrenzt ist. Aber nach kurzer Suche finde ich einen letzten Platz in einem bislang von drei Personen und deren Gepäck eingenommenen Abteil. Dort sitzen bislang: ein typisches Opfer des Jung-Dynamisch-Erfolglos-Prinzips mit modischer Hornbrille, dezentem Haarschnitt und zu langer goldener Krawatte, neben ihm sein Köfferchen für den Abend in Berlin/Hamburg/Paris/Kopenhagen nach der anstehenden Konferenz, vermutlich zu achtzig Prozent belegt durch seinen Laptop. Mir gegenüber der Bruder von Mr. T mit Glatze und in einen rot gefütterten, trotz der Totschlägerstatur des Mannes erstaunlich gut sitzenden Nadelstreifen gestopft. Er liest Ustinov und unter seinem Sitz kullert eine halb leere Wasserflasche hin und her, während er immer wütender über den Umstand wird, dass ich ihm gegenüber sitze, mein Rucksack so fett ist, dass er nicht unter den Sitz passt, der Rucksack deshalb vor meinen Füßen steht (und auf seinen) und überhaupt seine beiden Mitfahrer ziemliche Ignoranten sind, wenn sie dem Rucksack eines Mädchens keinen Platz anbieten. In der schmalen Gepäckablage über seinem Kopf liegt sein gigantischer Plastikkoffer und scheint sich über alle Gesetze der Schwerkraft prächtig zu amüsieren. Neben Mr. T2 sitzt noch ein ganz niedlicher Turbonegro-Fan – der eigentliche Grund, wieso ich wahrscheinlich dieses Abteil gewählt habe. Und neben dem wiederum auch sein Rucksack.

Ich beschäftige mich also eine Weile damit, neue Reisemöglichkeiten ab Berlin Arschderwelt (Flughafen) per Handy (wenigstens diesmal funktioniert’s; ich lerne manchmal doch aus Fehlern) von meiner Freundin abzufragen, diverse mitgebrachte Bücher und Zeitschriften anzulesen und wegen meiner allgemeinen Frustration bald wieder zuzuklappen (was jedes Mal ein Kramen im Rucksack und damit den Unmut von Mr. T2 provoziert) und nervös auf meinen Knien zu trommeln. Ich erwarte die totale Niederlage. Dauert nicht mehr lang.

Kurz hinter Baruth gibt es einen “Böschungsbrand” (interessant, all diese Bahn-Böschungsbrände bei eigentlich feuchtem Wetter), was heißt wir sitzen zwar in einem Anschlusszug nach Berlin, aber der steht jetzt auch nur noch dumm auf der Strecke rum. Ich fahre mit meinen interessanten, die schlechte Laune der anderen herausfordernden Tätigkeiten fort, erweitert durch: den Reiseplan des aufstrebenden Selbstüberschätzers stibitzen, feststellen, dass ich in einem Zug sitze, der nicht annähernd plant, mich an den angestrebten Zielort Rostock zu bringen und außerdem eine ganze Menge Verspätung hat, sodass sämtliche Informationen über Anschlusszüge ab Berlin Nonsens sind. Außerdem besitze ich, in der objektivsten Auslegung der Realität betrachtet, gar kein EC-Ticket. Die Wucht dieser versammelten Erkenntnisse treibt mich dazu, die nächsten zwanzig Minuten damit zu verbringen, die Ärger-, Frust- und Sorgenfalte über meiner Nase zu vertiefen.

Das mit dem EC-Ticket merkt keiner, da der Raumflug in die Baruthsche Pampa offenbar sicherheitshalber unbemannt durchgeführt wurde. Keiner da, um Karten zu knipsen, aber eben auch keiner, um mir zu sagen, was zur Hölle ich eigentlich in Berlin Schönefeld soll. Dorthin ist nämlich der Zug nach nur einer halben Stunde Wartezeit wegen des Feuers tatsächlich wieder unterwegs. Bald wird von einer körperlosen Phantomstimme Berlin durchgesagt, und ich komme kurz mit meinen Mitfahrern ins Gespräch. Der beschlipste BWL-Diplomand meint, der Böschungsbrand hätte ziemlich fernab vom Gleis stattgefunden (keiner von uns hatte überhaupt was davon gesehen), und vermutlich musste nur noch der Dorfgendarm dahin radeln, das Ganze mal anschauen und selbstgefällig dazu nicken, ehe wir weiter durften. Schließlich wird der merkwürdige Halt in Baruth erörtert, was ich aber schnell auflösen kann, worauf das Thema schnell darauf umschwenkt, dass ich plane, am Bahnhof Schönefeld meinen Rucksack von den Füßen von Mr. T2 zu nehmen und auf einen Anschluss nach Rostock zu warten. Der hornbebrillte Businessman sinniert noch über die Möglichkeit, dass ich genauso gut in Berlin Ost raus könnte, aber alles in allem doch besser gleich, gut, ich tu euch den Gefallen, ich muss ja wirklich ganz schön gruselig sein. Kurze Segenswünsche und freundliches Nicken von dem Turbonegro-Freak auf dem Bahnsteig, bevor er seiner Wege geht und ich mir endlich ein Klo suche.

Ich wandere also durch die endlose Unterführung von Schönefeld, folge den Schildern, durchquere eine kleine Lagerhalle und finde eine Ansammlung ziemlich verkeimter grüner DDR-Toiletten, Besuch kostet offiziell 50 Cent, aber die Klomannschafft ist eh viel zu versifft, um noch zu merken, dass ich kein Kleingeld für diese Marter zurücklasse. Anschließend steht ein Besuch in der Bäckerei Ditsch an, die anscheinend in meinem verwirrten Reisegeist die feste Bezugsgröße darstellt. Die verteilt hier als Entschädigung für den Zustand der Toiletten oder die allgemeine Unerträglichkeit des ganzen Bahnhofs kostenlose Traubenzucker. So gestärkt gehe ich zurück zum Gleis, prima, nur noch eine Stunde warten, bis der Zug geht, mit dem ich genauso gut von daheim aus hätte fahren können, wenn ich vorher noch zwei Stunden länger gefaulenzt hätte. Was stell ich jetzt mit dieser ganzen Zeit an? Nun, dafür wird gesorgt. Anscheinend habe ich ein mir bisher unsichtbares “Talk to me”-Schild auf die Stirn getackert, jedenfalls kommen innerhalb dieser Stunde alle naslang wildfremde Menschen auf mich zu, bitten mich auf deutsch, englisch, französisch oder hindi, ihnen den Weg zum Fahrkartenschalter oder -automaten zu erklären (der Trick am Bahnhof Schönefeld ist: es gibt nichts in der Art!) oder mal kurz auf ihr Gepäck aufzupassen. Würden Sie jemandem so vertrauen, der von Kopf bis Fuß schwarz trägt und einen Zombie auf den Rücken gedruckt hat?! Ich jedenfalls nicht. Das macht mir Angst.

Nachdem ich tapfer eine Stunde lang mit meinem Traubenzucker und einem ganz guten Buch am Bahnsteig gesessen und vorbeifahrende Güterzüge beobachtet hatte, wurde meine Geduld belohnt! Der Zug nach Rostock traf ein, die nervtötenden Mitfahrer hatten sich in Luft aufgelöst. Nachdem ich zwei Stationen an der Tür saß und dort auf der Suche nach einem warmen Pullover meinen Rucksack komplett aus- und wieder eingeräumt hatte, siedelte ich um ins Obergeschoß, wo ein Rentnerehepaar mit Enkelchen vor mir saß, beide anscheinend gebürtige Berliner und mit einer enormen Allgemeinbildung ausgestattet, sodass ich gleich noch bis Spandau an ihrer kostenlosen Berliner Stadtführung fürs Enkelkind teilnehmen konnte, wobei ich immerhin mitgekriegt habe, dass die Spree nicht mal annähernd in die Ostsee fließt (wie ich eigentlich gehofft hätte), sondern nur in die Havel, die wiederum in die Elbe und das ganze ja in die Nordsee. Prima, wieder was gelernt.

Nachdem die drei nun in Spandau gegangen waren, kam ein etwas merkwürdiger Typ auf diesen Platz, der bis Rostock eine Flasche Martini und zwei Biere komplett austrank… gut, das sind auch drei Stunden, aber ich wollte den Rekord nur ungern brechen. (Denn wenn ich ihn brechen würde, müsste ich wohl brechen… doofer Scherz am Rande.) Der war anscheinend schon so dicht, dass er sich köstlich darüber amüsieren konnte, wie vier Tussis weiter hinten im Abteil lautstark berieten, wie wohl französische Kühe muhen. Nachdem diese vier ausgestiegen waren, fing er an zu versuchen, nacheinander alle Leute, die in seiner näheren Umgebung saßen, in gelallte Gespräche zu verwickeln und sich Flaschenöffner und als solche verwendbare andere Gegenstände auszuleihen. Ich bin als einzige verschont geblieben – anscheinend fangen die schwarze Farbe und das Zombiebild doch langsam zu wirken an.

Irgendwo an der Ostsee wurde dann sogar noch mein Ticket kontrolliert und ich kam mit lächerlichen zwei Stunden Verspätung in Rostock an, eine Stunde zu spät für den Einlass zum geplanten Konzert, wo dann auch noch mein kompletter dicker Rucksack kontrolliert werden musste, unglaublich… Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Oder auch nicht, is ja alles halb so wichtig.

1 thought on “Abenteuer Bahnfahren

  1. Haha, die Geschichte ist wirklich alt. :) Aber letzend Ends hast du es noch zu mir geschafft.

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